Wein und Mensch, eine Analogie. Gesucht: Komplexität, Eleganz und Tiefe.
Ich liebe Wein. Nicht der Wirkung wegen, auch wenn sie manchmal gelegen kommt. Vielmehr ist es die enorme Vielfalt, die mich fasziniert. Ich mag es einfach, an einem guten Glas Wein zu riechen – oft sogar mehr, als ihn zu trinken. Denn ja, manchmal stört mich der Alkohol sogar. Er hält mich vom Nachschenken ab. Das Alter. Die Kopfschmerzen. Aber er trägt die Aromen und ist deshalb essenziell. So wie Komplexität, Eleganz und Tiefe. Das ist es, was ich bei jeder Flasche suche. Genau wie bei Menschen.– Ein Gedankengang von Raphael Bühler
Komplexität
Hat man einmal unzählige Tropfen verkostet, wird man sensibler. So erging es auch mir, als ich festzustellen begann, was ein Wein alles kann. Und was nicht. Am Anfang steht die Komplexität. Das mag elitär klingen, macht aber Sinn. Komplexität steht ganz einfach für die Vielfalt an Aromen. Die Regel dazu: Je komplexer ein Wein, desto besser. Mit etwas Zeit (und damit Sauerstoff) kann er dutzende verschiedener Gerüche hervorbringen – eine Reise, die nie aufhören soll. Und hier sind wir beim Kern dieses Textes: Ich vergleiche Wein oft mit Menschen. Einfach, plump, unmotiviert oder laut? Mag ich nicht. Vielschichtig im Wesen, mit spannenden Geschichten im Gepäck und immer wieder neu zu entdeckenden Nuancen? Spannend. Davon will ich mehr. Also weg mit den eintönigen Brühen. Da wechsle ich lieber zum Bier. Tee ist auch gut.
Eleganz
Der perfekte Wein hat komplex zu sein. Da sind aber noch weitere Attribute zu finden: Eleganz zum Beispiel. Hier wird es entscheidend. Das Glas, welches nie leer werden soll, betritt die Bühne leichtfüssig, aber mit enormer Präsenz. Man hört gerne zu. Lange und ohne auf die Uhr zu schauen. Kein Vorpreschen oder billige Effekthascherei. Eine übermotivierte Beere beispielsweise, störend platte Restsüsse oder im schlimmsten Fall zu viel Alkohol. Damit wird alles abgetötet. Da schaue ich nicht mal mehr auf die Uhr, will einfach wegrennen. Guter Wein spricht für sich, seine blosse Anwesenheit strahlt Kompetenz aus. Die wird nie langweilig, sondern steigert sich bis zum Crescendo. Denn der letzte Schluck der Flasche ist der beste. Wie bei einem intensiven Gespräch unter Freunden. Je länger der Abend, desto intensiver. Und Eleganz entsteht nur durch Ausgeglichenheit. Wenn alles zusammen harmoniert und im Einklang ist. Quasi Yoga im Glas.
Tiefe
Und zum Schluss die Tiefe. Ein reifer Barolo beispielsweise ist wie ein alter Mann, voller Furchen, knorrig und manchmal gar etwas merkwürdig riechend. Aber man gewöhnt sich daran oder wird eins mit ihm. Jede Begegnung zeugt von prägenden Geschichten. Und vor allem: Er ist eigenständig. Die heute so beliebten Fruchtmischungen mit bis zu sieben verschiedenen Rebsorten sind nur darauf aus, den Massengeschmack zu treffen. Tiefe jedoch erfordert Charakter. Den gilt es zu erforschen, er verlangt ein langsames Herantasten. Training ist gefragt, auch wenn das beim Thema Wein etwas quer klingt. Einen eigenwilligen Charakter mag man. Oder nicht. Das ist ok, aber wenigstens bleibt er in Erinnerung. Er steht zu dem, was er ist – will nichts verbergen. Er unterstreicht seine Herkunft, sein ganzes Leben, von der Geburt bis zum Tod. Und dieser findet im Gaumen statt, ganz hinten. Hier redet man vom Abgang. Man stelle sich ein gutes Buch vor mit einem offenen Ende. Oder ein bis zu den letzten fünf Minuten gelungenen Film und dann… nichts. Einfach Schluss. Ohne Pointe. Ein guter Wein überzeugt mit Länge und hallt nach, ganz lange. Das ist Tiefe. Ist sie nun gepaart mit Komplexität und Eleganz, kommen nicht nur dem Glas die Tränen, sondern auch mir.
Und wie finde ich nun diesen Wein?
Existiert eine Korrelation zwischen Preis und Genuss? Schwierige Frage. Ein wenig schon, leider. Aber gegen oben offen nicht. Und schliesslich ist Geschmack auch Geschmacksache. Also lerne die (wichtigsten) Rebsorten kennen und vergleiche sie direkt miteinander. Du kaufst ja auch nicht einfach Sirup, sondern Himbeer-, Erdbeer- oder Cassis-Sirup. So ist das auch beim Wein. Pinot Noir (auch Blauburgunder oder Spätburgunder), Cabernet Sauvignon, Merlot, Syrah und Nebbiolo beim Roten. Chardonnay, Riesling, Sauvignon Blanc und vielleicht noch ein, zwei andere beim Weissen. Kennt man die Grundcharaktere dieser Rebsorten, hat man es einfacher vor dem Regal. Und wenn man weiss, wie beispielsweise ein Riesling zu schmecken hat, kann man auch guten von schlechtem unterscheiden. Denn er soll ganz sich selbst sein. Wie der Mensch.