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 Im Dialogmarketing ist die Verknappung ein wichtiger Hebel. Der Wu-Tang Clan hat diesen Nudge perfektioniert.
 
23.09.2024
Know-How

Im Dialogmarketing ist die Verknappung ein wichtiger Hebel. Der Wu-Tang Clan hat diesen Nudge perfektioniert.

Einmalig und noch bis zum Jahr 2103 in einem Tresor versteckt: Von einem Album der berühmten Hip-Hop-Crew gibt es genau ein Exemplar. Wer es besitzt, darf es erst 88 Jahre nach Entstehung veröffentlichen. Hören konnten es bislang nur wenige Menschen ausschnittsweise auf zwei exklusiven Events. Ein Musterbeispiel für beinahe unwiderstehliches Nudging mit der Anziehungskraft des Unerreichbaren.

«Verknappung» bezeichnet die strategische Limitierung eines Angebots. Der Zweck: es attraktiver erscheinen zu lassen und dadurch als Schubs gegen Unsicherheiten bei der Kaufentscheidung zu wirken. Beim beinahe leergekauften Regal mit dem Sonderangebot im Weinladen spüren wir den Effekt schon fast körperlich. Auch, weil wir ihn uns erklären können: Ausgetrunken ist ausgetrunken, also schnell entscheiden. Aber bei digitalen Gütern, die sich in beliebiger Zahl anbieten? Verliert das durchschaute Kalkül nicht seine Wirkung auf uns wie ein verratener Zaubertrick? 

 

Es war einmal: Ratlosigkeit

«Once Upon A Time In Shaolin» ist der Name eines Albums des stilprägenden HipHop-Kollektivs Wu-Tang Clan. Seine Anfänge liegen in einer Zeit, in der die Zukunft von Musik (und die der dahinterstehenden Industrie) plötzlich nicht mehr begreifbar war. Und zwar im wahrsten Sinne des Wortes: Musik als Ware war nicht länger an physische Alben gebunden. Beinahe wertlos geworden und beliebig kopierbar, fand sie den illegalen Weg auf immer hungriger werdende Festplatten. Musiker weltweit suchten nach Auswegen aus diesem Dilemma. So auch Robert Diggs, unter dem Pseudonym RZA bekannt gewordener Gründer und Produzent des Wu-Tang Clan. Seine Antwort auf die Entwertung der Arbeit von Musikern: «Mir wurde klar, dass ich Künstler bin.» Nicht einfach Rapper, Produzent oder Hip-Hop-Musiker. «Das ist, was ich mache: Ich bin Künstler.» Also begann er um 2007, gemeinsam mit Tarik «Cilvaringz» Azzougarh als Co-Produzenten, an einem musikalischen Kunstwerk zu arbeiten.

 

Schalldicht weggeschlossen

Das Ergebnis dieser Arbeit verschwand 2013 direkt nach seiner Fertigstellung im ersten von vielen weiteren Tresoren. Zunächst in einem Luxushotel in Marrakesch, dann bei einem Online-Auktionshaus. Gefolgt von einem Hedgefonds-Manager, einer Dependance des US-Justizministeriums, einer dezentralen autonomen Organisation und zuletzt in einem Museum in Tasmanien. Zumindest der erste Teil dieser ungewöhnlichen Reise war Teil des Plans seiner Schöpfer. Sie hatten darüber nachgedacht, was klassische Kunstwerke von Ikonen der Moderne wie Kinofilmen oder auch Musikalben unterscheidet. 

 

Auf der Suche nach dem Original

Eine Antwort lautet: Einzigartigkeit, auch was die Verfügbarkeit angeht. Zwar spuckt eine Bildersuche nach der Mona Lisa über 100 Millionen Resultate aus. Trotzdem besuchten allein 2023 mehr als 7 Millionen Menschen den Louvre. Höchstwahrscheinlich, um einmal im Leben das Original gesehen zu haben. Vermeers «Mädchen mit den Perlenohrringen» kann man jederzeit sehr bequem auf dem iPad anschauen. Aber die 450'000 Tickets für die beispiellose Ausstellung fast aller seiner Gemälde waren in nicht mal 48 Stunden ausverkauft. Der Erfolg von Musik dagegen gründet darauf, von möglichst vielen gehört und geliebt zu werden. Das Original auf unhandlichen Studiofestplatten unterscheidet sich nicht von der digitalen Kopie. Und gestreamt vom Server haben wir (fast) alles jederzeit mit nur einem Touch verfügbar.

 

Die Reise beginnt

Nach Abschluss der Arbeiten vernichteten die beiden Produzenten sämtliche digitalen Kopien und verpackten das einzig hergestellte physische Exemplar von «Once Upon A Time In Shaolin» in eine Schatulle aus Silber. Am 2. März 2015 spielten die Produzenten einem handverlesenen Publikum aus HipHop-Fans, Kunstfachleuten und möglichen Kaufinteressierten im New Yorker MoMA einen 5 Minuten und 6 Sekunden dauernden Mix des Albums vor. Das Auktionshaus Paddle8 wurde beauftragt, einen Käufer für das Werk zu finden. Der Fondsmanager Martin Shkreli erhielt im November 2015 den Zuschlag – für 2 Millionen US Dollar! Nach seiner Verurteilung wegen Wertpapierbetrugs einige Zeit später konfiszierten die Strafbehörden das Album als Teil seines Vermögens und verkauften es im Juli 2021 für 4.75 Mio US Dollar an eine NPO namens PleasrDAO. 

 

Countdown ins Jahr 2103

Was macht eine Organisation, die sich auf die Sammlung von digitaler Kultur spezialisiert hat, mit diesem Album? Schliesslich ist sein Besitz an die Auflage gekoppelt, es erst 88 Jahre nach seiner Fertigstellung, also 2103, zu veröffentlichen. Am 28. Mai 2024 veröffentlichte das Museum of Old and New Art (MONA) im australischen Hobart eine Ankündigung zur geplanten Ausstellung «Namedropping»: Ab dem 15. Juni erhielt eine begrenzte Anzahl von Besucher:innen während zehn Tagen die Möglichkeit, einen rund 30-minütigen Mix des Albums zu hören. Innerhalb kürzester Zeit wurde die Warteliste beim Stand von 5’000 Anmeldungen geschlossen, etwa 500 Menschen sicherten sich eines der begehrten, kostenlosen Tickets. 

 

Ein Stück Unerreichbares

Parallel dazu startete am 13. Juni auf thealbum.com ein Countdown ins Jahr 2103. Ein Statement der Eigentümer erläuterte, was mit «Once Upon A Time In Shaolin» passieren wird: «Vor 10 Jahren schuf der Wu-Tang Clan ein unvergleichliches Album. Als Statement gegen Raubkopien und die Entwertung von Musik erstellten sie nur ein einziges Exemplar von «Once Upon A Time In Shaolin», um Musik ihren Wert zurückzugeben. Der Plan ging auf. Es wurde das teuerste Album, das jemals verkauft wurde, und das gleich zweimal. Allerdings hat der Plan seinen Preis: Bis 2103 kann jeweils nur ein einziger Mensch, in dessen Besitz das Album ist, es anhören. Seit 2024 gibt es einen mutigen neuen Plan: Pleasr hat das Album digitalisiert und verschlüsselt, so dass jeder es für einen Dollar besitzen kann. Jeder Kauf rückt das ursprüngliche Datum für die Veröffentlichung des Albums um 88 Sekunden vor. Wir stellen eine einfache Frage: Sind wir bereit, Künstler im digitalen Zeitalter zu bezahlen?» Nur einen Tag später zeigte das Leaderboard bereits über 95'000 Verkäufe des knapp 5-minütigen Album-Remixes, womit das Warten immerhin um mehr als 13 Wochen verkürzt wurde. 

 

Ein kurzer Besuch in der Zukunft

Die allerwenigsten von uns werden die offizielle Veröffentlichung von «Once Upon A Time In Shaolin» miterleben. Vielleicht interessiert es dann auch niemanden mehr? Aber wer sich wie ich dieses Ticket für eine kurze Reise in die musikalische Zukunft kauft, erlebt etwas einzigartig Faszinierendes, das auch 100 Millionen Tracks auf Spotify nicht übertreffen können. Für genau 5 Minuten und 6 Sekunden befinde ich mich im MoMA unter den Gästen der exklusiven Listening Session und höre einen kleinen Teil von etwas, das kaum jemand von uns jemals komplett kennenlernen wird. 

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